Gemeinnütziger Verein zum Aufbau und zur Förderung eines Jazzmuseums in Deutschland
Jazzstadt Esslingen
30 Jahre Wiedereröffnung das Jazzkellers 1995 – 2025
Interview mit Udo Klinner im Sept. 2024 und Mai 2025
Im Jahr 1957 gründeten junge jazzbegeisterte Esslinger einen Club, aus dem sich in der Folge der bis heute existierende Jazzkeller Esslingen entwickelte. Nach einer längeren Phase der Schließung kam es 1995 zur Wiedereröffnung dieses legendären Spielortes.

Udo Klinner, Jahrgang 1939, war nicht nur Mitbegründer des Jazzkellers, sondern auch Autor und neben Alexander Maier Mitherausgeber des im Jahr 2000 erschienenen Bandes „Musik aus Mauern – Chronik des Esslinger Jazzkellers“. Im Rahmen der Recherchen zu einer geplanten Ausstellung zur Jazzstadt Esslingen führte der Verein Deutsches Jazzmuseum e.V. mit ihm folgendes Interview. Die Fragen stellte Wolfgang Epple.
Udo, dein Herz schlägt seit Jahrzehnten für den Jazz. Wie kam es zu deiner Begeisterung für Jazz?
Nun ja, das fing schon in jungen Jahren an, als wir – zuerst über das Radio, über AFN zumal – unsere ersten Hörerlebnisse hatten. Und als wir – Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre – erste Möglichkeiten hatten, Jazzkonzerte zu besuchen, merkte ich, dass ich mehr und mehr an dieser Musikrichtung Gefallen fand.
Es lag in erster Linie am rhythmischen Hintergrund. Es war der Rhythmus, der uns alle, die davon begeistert waren, bewegte. Wir merkten, dass diese Musik etwas anders gestaltet war, dass sie etwas Außergewöhnliches war.
Ich erinnere mich mit großem Respekt an das Esslinger Konzert des Kurt Edelhagen Orchesters im Kugelsaal, dem ehemaligen Festsaal in der Bahnhofstraße – das war, wenn man so will, der erste Jazztempel der Stadt – mit Gaststar Caterina Valente. Und Kurt Edelhagen machte mit seinen zwanzig Mann eine Musik, das war unglaublich. Caterina Valente war eine fantastische Solistin mit großem Jazzfeeling – das merkten wir alle und waren natürlich begeistert. Ich hatte das Glück, über eine Treppe in den Kellerraum gehen zu dürfen, wo ich mir von Caterina Valente mein allererstes Autogramm geben ließ. Es war ein Riesenerlebnis.
Später kam dann auch mal Hazy Osterwald nach Esslingen, und auch viele Stuttgarter Jazz-Größen waren zu hören. So hat sich das langsam entwickelt, bis schließlich eine Gruppe von Gleichgesinnten auf die Idee kam, einen Club zu gründen, um ein ständiges Domizil für die gemeinsame Begeisterung zu haben. Und dann haben wir eben einen Verein gegründet.
Wie alt warst du zu der Zeit?
Da war ich knapp 20 Jahre alt. Jeder von uns hatte so seine Vorlieben. Ich persönlich war ja eigentlich Nichtmusiker, wollte aber gerne Schlagzeug spielen. Aber mein damaliger Schlagzeuglehrer merkte sehr bald, dass mein Talent nicht ausreichte, um weiterzumachen.
Du hattest einen Schlagzeuglehrer?
Ja, also Lehrer ist eigentlich zu viel gesagt, wir hatten einen Schlagzeuger in unserer Gruppe, der bereit war, uns in regelmäßigen Abständen zu unterrichten, um an dem Instrument ebenfalls „etwas zu werden“. Leider war mir der Erfolg nicht vergönnt. Und so habe ich meinen Weg dann als Genießer, als Konsument, als Hörer, später dann als Berichterstatter gefunden.
Ich will noch mal auf den Kugelsaal zurückkommen, den du erwähnt hast. Da fanden doch sicher nicht nur Jazzkonzerte statt.
Ja, andere Musikarten wurden auch gespielt. Der Kugelsaal war ja in erster Linie für alle möglichen Festivitäten vorgesehen. Da fanden Hochzeiten statt, die üblichen Abschlussbälle von Tanzkursen, es wurden Geburtstage und Jubiläen gefeiert. Das waren die Haupteinnahmequellen des damaligen Besitzers. Aber es gab auch musikalische Unterhaltung anderer Art, volkstümliche Musik, bayerische Folklore…. Jazz war eigentlich eher selten. Umso glücklicher und stolz waren wir, dass auch unsere musikalische Richtung vertreten war.
Welche Rolle haben denn die amerikanischen Soldaten in der Stadt gespielt?
Ja, die Amerikaner, die kamen von Nellingen runter, aus den Nellingen Barracks. Sie hatten im Grunde genommen nur zwei, drei Interessen: Sie wollten Begeisterung, Unterhaltung – und Mädchen. Wir wiederum waren daran interessiert, damals begehrte Dinge wie Zigaretten, Chewing Gum und so weiter zu bekommen. Und wir hatten natürlich Interesse daran, von den Amerikanern die damals in Deutschland noch sehr schwer zu findenden Jazzplatten zu erstehen. Und die haben wir dann auch tatsächlich durch allerlei Tauschgeschäfte erstanden. Ich hatte das Glück, einen amerikanischen Soldaten kennenzulernen, der sich für Jazz interessierte, was zur Folge hatte, dass wir von ihm in die Kaserne eingeladen wurden. Wir mussten dazu immer große Anmelde-Prozeduren durchlaufen, die aus Sicherheitsgründen notwendig waren. Eines Tages hatten wir das unwahrscheinliche Glück, die Duke Ellington Big Band in den Nellingen Barracks zu erleben. Duke Ellington in Nellingen! Wir hatten alle eine Gänsehaut, als wir Musiker wie Johnny Hodges, Cat Anderson und all diese Größen leibhaftig vor uns sahen und hörten. Es war unglaublich. Diese Erlebnisse bleiben ein Leben lang haften.
Wie war es möglich, dass ihr überhaupt in die Barracks kamt?
Das war so: Wir brauchten immer einen amerikanischen Soldaten als Paten. Der wiederum musste seinen Vorgesetzten fragen, ob er uns zu bestimmten Veranstaltungen als Gäste in die Kaserne mitbringen darf, was in den meisten Fällen auch klappte. Der Pate empfing uns dann mit seinem Vorgesetzten am Eingang. Wir mussten natürlich unsere Personaldaten angeben und die Ausweise, soweit schon vorhanden, abgeben. Dann hatten wir die Möglichkeit, DM in Dollar umzutauschen und uns so richtig sattzuessen. Es gab Hamburger – sooo dick! –, Pommes Frites, Coca-Cola. Das alles war neu für uns. Und dann gab es eben Unterhaltung: Boxkämpfe, mit Vorliebe Schwarz gegen Weiß!, sogenannte Floorshows, bei denen leicht bekleidete deutsche Mädchen tanzten, und vor allem Rock ‘n‘ Roll. Jazz wurde nicht so oft gespielt. Gegen Mitternacht, nachdem wir unsere Papiere wieder am Gate abgeholt hatten, fuhren wir mit der Straßenbahn wieder nach Esslingen. Und der Zauber, der amerikanische Zauber, war vorbei.
1957 kam es dann zur Gründung eures Clubs. Und meines Wissens warst du da auch schon dabei.
Ja, das ist richtig. Wir waren circa 10 Personen, die die Absicht hatten, einen Club zu gründen. Und ich bin, so viel ich weiß, einer der letzten drei Überlebenden von denen, die das in die Wege leiteten. Im Oktober 1957 haben wir uns zusammengesetzt, die Satzung erarbeitet, um sie dann bei den entsprechenden Behörden einzureichen.
Kannst du dich noch an die Namen der Gründungsmitglieder erinnern?
Ja, das waren die beiden späteren Vorstands-Chefs Walter Schäfer (Präsident!) und sein Stellvertreter Günther Graf. Helmut Bohnenstengel kümmerte sich um die Engagements der Musiker und die Verträge. Ich übernahm die Rolle des Schriftführers und kümmerte mich um die Öffentlichkeitsarbeit, um die Benachrichtigung der Mitglieder, um die Aufnahme neuer Mitglieder und auch um unser Archiv. Nach Neuwahlen wurden die Aufgaben immer wieder neu verteilt.
Was war das Ziel eures Vereins?
Wir wollten uns regelmäßig einmal in der Woche treffen, immer freitags. Dann stellten wir unsere neu erworbenen Schallplatten vor. Bald wurde aus diesen eine Platte der Woche oder des Monats ausgewählt, die sogenannte Inselplatte, so etwa wie heute das Tor des Monats. Und natürlich sollten diejenigen, die ein Instrument spielten, die Möglichkeit bekommen, regelmäßig zu musizieren. Das war aber erst möglich, nachdem wir im Jazzkeller unser Zuhause bekommen hatten. Zunächst trafen wir uns immer im Amerika-Haus in der Mühlberger Straße. Später wurde das Heppächer Haus [in dem nach der Zerstörung der Synagoge 1938 von 1949 bis 1986 das Jugendhaus Mitte untergebracht war] unser Refugium. Dass wir uns da immer, wenn es der Belegungsplan zuließ, treffen konnten, verdankten wir dem Leiter des Kreisjugendrings, Herrn Otto Weinmann, der uns wirklich großzügig unterstützte.
Du sollst auch Referate zum Thema Jazz gehalten haben.
Irgendwann haben wir beschlossen, dass jeder von uns einmal über seinen Lieblingsmusiker berichtet, über dessen musikalischen Stil oder auch über die Geschichte und stilistische Entwicklung des Jazz. So hat man sich, ich will mal sagen, theoretisch ausgetauscht. Das möchte ich vielleicht nicht als Vortrag bezeichnen, das wäre zu viel gesagt, eher als Beitrag zur Gestaltung des Clublebens.
In der Chronik des Esslinger Jazzkellers wird erwähnt, dass auch Herbert Lindenberger, anerkannter Jazzkritiker der Stuttgarter Zeitung, und Dieter Zimmerle, Jazzredakteur und Moderator des SDR und Herausgeber des Jazzpodiums, des führenden deutschen Fachmagazins für Jazz, zu Gast waren.
Richtig, wir hatten das Glück, Herbert Lindenberger sogar zweimal für uns zu gewinnen. Seinen ersten Vortrag hielt er noch im besagten Amerikahaus, den zweiten schon in unserem neuen Zuhause, dem Jazzkeller. Auch später war er immer wieder ein gern gesehener Gast bei unseren Konzerten. Dieter Zimmerle dagegen hat sich ein bisschen rar gemacht. Die Stuttgarter haben dem ganzen Esslinger Treiben nicht so richtig getraut. Da passierte vielleicht noch zu wenig. Bevor sich der Jazz-Papst nach Esslingen begab, brauchte es schon seine Zeit. Aber als wir später die Übertragungswagen vom Süddeutschen Rundfunk vor der Tür stehen hatten, kam er dann. Das war dann schon eine Nummer größer, und siehe da, dann tauchte auch mal ein Dieter Zimmerle auf und erteilte seinen Segen.
Wie kam es denn zur Verbindung zwischen dem Bäckermeister Hutter und den jungen Jazzern?
Das hatten wir dem Kai Buck Trio mit Alfred Borst und Norbert Holl zu verdanken, die in dem Keller ihre erste Übungsstätte gefunden hatten. Und natürlich dem Bäckermeister Gustav Hutter, dem Papa des jetzt auch schon verstorbenen Eugen Hutter. Gustav Hutter war ein wunderbarer Mensch, ich sehe ihn noch vor mir, klein gewachsen, aber voller Elan, und vor allem ein richtiger Jazzer. Er war in seinen jungen Jahren mal in den USA gewesen und hatte von da diese Leidenschaft mitgebracht. So lag es für ihn nahe, den jungen Jazzmusikern den Keller als Übungsraum zur Verfügung zu stellen. Das war praktisch die erste Stufe auf dem Weg zum späteren Jazzkeller. Wenn man den heutigen Jazzkeller vor Augen hat, kann man sich gar nicht vorstellen, wie es damals dort aussah. Man brauchte quasi alpinistisches Können, um über die steilen Stufen runter und rauf zu kommen. Den modrigen Geruch, der einen empfing, bekam man lange nicht aus der Nase. Aber dieser Keller sollte nun bald unser Zuhause werden. Und das Buck Trio wurde so was wie unsere Hausband, die immer bereit war kurzfristig einzuspringen, wenn es nötig war.
Wie reagierten eigentlich die Eltern der jungen Jazzenthusiasten auf das Hobby ihrer Söhne?
Oh, da bin ich jetzt fast ein bisschen überfragt, denn ich kann mich eigentlich nicht erinnern, dass es da mal Probleme gab. An eine Begebenheit erinnere ich mich aber: Helmut Bohnenstengels Vater war Polizist, und dass er ein strenger Polizist war, wussten wir, weil wir ihm nämlich manchen Strafzettel zu verdanken hatten. Dass er aber durchaus offene Ohren für unser Anliegen hatte, erfuhren wir, als er uns einmal bei einem kniffligen Problem mit den Behörden viel Glück wünschte und uns, wenn nötig, zu helfen versprach.
Der Jazzkeller war also kein Zankapfel in der Esslinger Bevölkerung?
Nein, das kann ich nicht sagen, wir hatten wirklich keine Schwierigkeiten. Auch dass es nach einigen Jahren zum zwischenzeitlichen Aus des Jazzkellers kam, lag ja vor allem an den baulichen Auflagen, die nicht so einfach zu erfüllen waren, nicht aber an Vorurteilen oder gar moralischen Bedenken der Bevölkerung.
Wie setzte sich denn das Publikum zusammen, das in den Jazzkeller kam?
Ja, das ist wirklich interessant. Denn so langsam sprach sich herum, dass sich da was in Esslingen tut. Auch die Stuttgarter wurden immer neugieriger, kamen vermehrt in den Jazzkeller, weil sie da erstaunlicherweise ihre eigenen Leute, Wolfgang Dauner & Co., hören konnten. Es kamen sogar Jazzfans aus Reutlingen und Tübingen, obwohl es da ja schon recht renommierte Jazzclubs gab. Und zu unserer großen Überraschung kamen auch jugendliche Besucher aus Ulm, die den weiten Weg nach Esslingen auf sich nahmen, um „ihre Musik“ zu hören. Und dann gab es auch Gegenbesuche von unserer Seite, so dass es bald zu einem lebhaften Austausch kam.
War es von Anfang an so, dass im Jazzkeller Modern Jazz gespielt wurde?
Nein! Eine sehr gute Frage. Natürlich fingen wir ganz am Anfang mit Old Time Jazz an, mit klassischem Dixie, wie man ihn so kennt. Es sollte ein Türöffner sein, wir wollten die Leute an unsere Musik heranführen. Darum haben wir auch Bälle organisiert, zum Beispiel im Alten Rathaus oder im schon erwähnten Kugelsaal. Aber das hat sich sehr bald geändert. Esslingen hatte in kürzester Zeit den Ruf, modernen, vielleicht sogar avantgardistisch zu nennenden Jazz zu bieten. So spielte etwa das Wolfgang Dauner Trio mit Eberhard Weber und Fred Braceful schon früh im Keller. Hier begann also, wenn man so sagen darf, die Karriere des in Esslingen aufgewachsenen und später richtungsweisenden und weltberühmt gewordenen Bassisten Eberhard Weber.
Und dann war plötzlich Schluss, der Jazzkeller musste schließen.
Es gab noch so eine Interimslösung, bevor ganz Schluss war. Verantwortlich für die Programmgestaltung war der hochverehrte Hans Haug, der den Club übernommen hatte und der Meinung war, dass man mit einem reinen Jazzprogramm finanziell nicht mehr über die Runden komme. Er wollte das Angebot breiter streuen. Und dann traten Künstler wie der Kabarettist Hanns Dieter Hüsch, der Liedermacher Reinhard Mey oder auch die britische Heavy-Metal-Band Black Sabbath im Jazzkeller auf. Also alles große Namen, aber mit Jazz hatte das nichts mehr zu tun. Das führte dazu, dass viele der angestammten Mitglieder nicht mehr mitmachen wollten, zu denen leider – wie ich heute sagen muss – auch ich gehörte. Aber Hans Haug war mit diesem Konzept durchaus erfolgreich bis zu dem Moment, in dem der Keller aus baulichen Gründen tatsächlich schließen musste.
Und jetzt waren die Jazzer heimatlos?
Ja, jetzt waren wir heimatlos. Aber natürlich suchten wir Alternativlösungen. Da gab es die damalige Szenekneipe Alpenrösle oder das Haus in der Landolinsgasse 8, in dem heute der Club Tsingtau residiert. Aber diese Nebenstätten blieben alle erfolglos.
Ich selbst war in der Zeit für ein halbes Jahr in den USA, danach beruflich sehr engagiert, sodass ich nach und nach den Kontakt zur Jazzszene verloren habe. Ich weiß aber soviel, dass etliche der alten Esslinger Jazzer versucht haben, ihr Baby wiederzubeleben. Zu Beginn der 1990er Jahre war es dann Dr. Peter Kastner, der als Kulturreferent der Stadt alle Hebel in Bewegung setzte, dem Jazz wieder Gehör zu verschaffen, auch wenn er zunächst bei der Führungsspitze der Stadt, um es freundlich zu formulieren, auf wenig Resonanz stieß. Doch durch seine Hartnäckigkeit konnte er schließlich die zuständigen Gremien von der Idee einer Wiedereröffnung des Jazzkellers überzeugen.
Das wurde dann natürlich ein finanzieller Kraftakt. Die Kosten für den Umbau sollten bei circa 50.000 DM liegen, von denen die Stadt 20.000 DM übernehmen wollte. Der Keller musste von Grund auf erneuert werden. Eigentlich darf man das gar nicht laut sagen, aber in den ersten Jahren hatten wir nicht einmal richtige Toiletten. Es ist letztlich dem späteren Hausbesitzer, dem guten Eugen Hutter, zu verdanken, dass alles ein gutes Ende nahm. Er war wirklich sehr großzügig und hat die notwendigen handwerklichen Leistungen aus eigener Tasche finanziert. Aber es brauchte natürlich seine Zeit, bis sich die Türen zum Jazzkeller 1995 schließlich wieder öffneten.
Der Jazzkeller war ja beinahe ein Vierteljahrhundert geschlossen. Waren die Aktiven aus den Gründungsjahren des Jazzkellers noch da? Waren sie weiterhin am Jazz interessiert?
Ja, die meisten waren tatsächlich noch da. Man hatte die Leidenschaft für den Jazz nicht aufgegeben. Gut, der eine oder andere war aus beruflichen oder privaten Gründen aus Esslingen weggezogen. Aber der harte Kern war noch da. Das war sehr, sehr schön. Und auch die Musiker waren wieder da und haben die Szene wiederbelebt, Wolfgang Dauner hat mit Albert Mangelsdorff sogar das Eröffnungskonzert bestritten.
In den Anfangsjahren hat dann Günter Graf, ein lieber guter Freund – leider auch schon verstorben – die Führung des Clubs übernommen. Walter Schäfer hat Esslingen dann verlassen, seine Adresse habe ich leider nicht mehr, ich weiß nicht, ob er überhaupt noch lebt. Aber Günter Graf hat wirklich eine tolle Arbeit gemacht. Es gelang ihm, wieder sehr namhafte, international renommierte Musiker an Land zu ziehen. Und so gab es bald schon wieder eine lebendige Esslinger Jazzszene. Allerdings nahm auch die organisatorische Arbeit zu, und so teilte sich Günter Graf bald die Verantwortung mit Jochen Volle, dem Leiter der Musikschule, später kam noch Eckhart Fischer dazu. Als Günter sich aus gesundheitlichen Gründen zum Rückzug gezwungen sah, begann die Ära Claudia Leutner/Barbara Antonin, die bis heute anhält. Das wunderbare Duo zeigt seitdem der Jazzwelt, was eine Harke ist. Man kann ihnen nur den allergrößten Dank aussprechen für das, was sie bis zum heutigen Tag auf die Beine stellen.
Und du warst plötzlich Musikjournalist!
Ich muss dazu sagen, dass ich durch meine berufliche Tätigkeit in den damaligen COMECON-Ländern meinem Faible für Jazz weiter nachgehen konnte. Ich war in den Jazzclubs von Budapest, Warschau und Prag – Prag war für mich ein Zuhause – ich habe sogar, was mir keiner glaubt, nahe der Moskauer Lomonossow-Universität in einem anonymen Studententreff Jazz gehört. Ein Mitarbeiter einer unserer staatlich verordneten russischen Vertragspartner hat mich mal zur Seite genommen und mir verraten, dass er auch Jazzfan ist. Ihm habe ich dann immer mal wieder Schallplatten und Kassetten mitgebracht. Bei den Kontrollen am Moskauer Flughafen Scheremetjewo habe ich dann regelmäßig gezittert vor Angst, dass ich auffliege. Mein russischer Kollege war mir natürlich unendlich dankbar, denn zu der Zeit war es in der damaligen Sowjetunion beinahe unmöglich, an westliche Jazzplatten zu kommen. Eines Tages hat er mich zum Konzert einer finnisch-russischen Jazzgruppe mitgenommen. Es wurde ein wunderbarer Abend, wir waren glücklich, so etwas in Moskau hören zu dürfen, auch wenn die Qualität der Ad hoc-Combo nicht ganz so umwerfend war. In Brünn bekam ich Kontakt zu Gustav Brom, dem Leiter der berühmtesten Big Band der Tschechoslowakei. Wir trafen uns immer wieder während der Internationalen Industriemesse, er hat mich zu sich nach Hause eingeladen, wir haben gegessen und gefachsimpelt, und natürlich habe ich auch ihm die begehrten Platten mitgebracht. Als ganz besonderes Glück empfand ich es, dass er mich einmal zu Studio-Aufnahmen bei Radio Brünn eingeladen hat. Gerne erinnere ich mich auch daran, dass er mir beim Abschied immer einen Gruß an seinen Freund Erwin Lehn mit auf den Weg gab.
Aber jetzt nochmal zurück zu deiner Frage, die habe ich jetzt ganz vergessen.
Ich habe dich an deine Karriere als Konzertrezensent erinnert.
Aus gesundheitlichen Gründen musste ich mich leider aus meinem Beruf ein bisschen zurückziehen und habe mich mit anderen Dingen wie zum Beispiel der Malerei beschäftigt. Und ich hatte Zeit, wieder häufiger zu Jazzkonzerten zu gehen. Dort kam ich irgendwann mit Alexander Maier von der Esslinger Zeitung ins Gespräch, der mich fragte, ob ich denn keine Lust hätte, ab und zu über ein Konzert im Jazzkeller zu schreiben. So fing das an. Am Anfang habe ich noch manche handwerklichen Fehler gemacht, ich wurde ja sozusagen ins kalte Wasser geworfen, aber nach und nach fühlte ich mich sicherer. Und offensichtlich wurde ich bald auch akzeptiert, von den Lesern und auch von den Musikern. Und so durfte ich dann 20 Jahre lang regelmäßig für die Esslinger Zeitung schreiben, nicht nur über Jazz, sondern auch über Kunst.
Erzähl doch mal von deinen persönlichen Highlights aus dieser Zeit.
Da gäbe es natürlich eine ganze Menge zu erzählen. Es gab unglaublich viele gute Konzerte. Wo soll man da anfangen? Natürlich Paul Kuhn oder Don Menza und dann immer wieder Dusko Goykovich. Er kam ja aus Serbien. Während des Balkan-Krieges kam er mal auf mich zu und sagte: „Weißt Du, wir haben zu Hause gerade wieder eine Bombenstimmung“. Aber im Allgemeinen hatte man nicht so oft Gelegenheit zu persönlichen Kontakten. In Esslingen war das immer so: Die Musiker kamen, es gab einen kurzen Soundcheck, danach gingen sie essen, da war ich dann auch ein paar Mal dabei, dann haben sie ihr Konzert abgeliefert und im Anschluss sind sie so schnell wie möglich ins Hotel bzw. nach Hause gefahren. Im Ausland war das anders, da hatte ich häufig die Gelegenheit, mich länger mit Musikern zu unterhalten.
Wo war das?
Das war zum Beispiel beim Festival in Vienne. Da hatte ich ein wunderbares Gespräch mit Hank Jones. Mit Charles Lloyd politisierte ich über Europa, Amerika, die UNO, die NATO. Es war unglaublich. Ein weiteres schönes Erlebnis hatte ich während des Urlaubs in Italien. Zufälligerweise wohnte ich mit meiner Frau im gleichen Hotel wie die Musiker, die gerade beim Jazz-Festival in Perugia aufgetreten waren. Und so traf ich dort George Benson, der sich allerdings als etwas unnahbare Diva entpuppte. Gerne hätte ich im Freien ein paar Fotos von ihm gemacht. Das wollte er aber nicht, was ich natürlich respektiert habe. Al Jarreau dagegen war sehr offen. Als ich mich vorstellte und von Esslingen berichtete, erinnerte er sich sofort an sein Konzert auf der Burg und an die vielen Treppen, die er hochsteigen musste. Auch mit Ray Anderson, meinem Lieblingsposaunisten, hatte ich ein sehr langes Gespräch, das weit über das Thema Jazz hinausging. Er musste seine Karriere ja wegen einer halbseitigen Gesichtslähmung für lange Zeit unterbrechen, spielt jetzt aber wieder. Kürzlich hatte er sogar einen Auftritt in der Dieselstraße.
Du hast gerade Vienne erwähnt. Bei diesem Jazzfestival hattest du ja eine besondere Funktion.
Esslingen ist ja mit einer Reihe von Städten freundschaftlich verbunden, unter anderem mit Schiedam (Niederlande), Udine (Ialien) und Neath Port Talbot (Wales), aber die älteste Städtepartnerschaft ist die mit Vienne. Dort gibt es eines der weltweit berühmtesten Jazzfestivals überhaupt. Da wird 14 Tage lang das Beste vom Besten geliefert. Einer der Verantwortlichen der Stadt, Patrick Courtauld, ein ausgewiesener Jazzfan, unterbreitete in den 1990er Jahren Dr. Kastner, unserem Kulturreferenten, die Idee, man könnte doch Jazzgruppen aus allen Partnerstädten zu Konzerten nach Vienne einladen und einen Preis ausschreiben. In der Jury sollte jeweils ein Verteter dieser Städte sitzen. Aus Esslingen war das zunächst Jochen Volle. Ende der 90er Jahre bat er mich, seine Rolle zu übernehmen, da er es zeitlich nicht mehr mit seiner Funktion als Leiter der Esslinger Musikschule vereinbaren konnte. Die Combos aus den Partnerstädten spielten zwar nicht auf der großen Festivalbühne, sondern in Clubs und anderen kleinen Spielstätten. Aber das Preisgeld für den Sieger belief sich dennoch auf sage und schreibe 10.000 Dollar!
Das war aber kein einmaliges Ereignis?
Nein. Ich hatte dreimal die Ehre dabei zu sein. Zudem hatte ich die Möglichkeit, die Konzerte auf der großen Bühne zu besuchen und die Atmosphäre in diesem wunderschönen römischen Amphitheater bei schönstem Wetter zu genießen. Und einen Artikel für die Esslinger Zeitung gab es natürlich auch immer. Leider Gottes konnte die Stadt Vienne die hohen Kosten für diesen Wettbewerb bald nicht mehr aufbringen. Und da die anderen Partnerstädte sich auch nicht in größerem Umfang an der Finanzierung beteiligen wollten, sind diese wunderbaren interkulturellen Begegnungen eben gestorben.
Und wie sieht es mit deiner Jazzbegeisterung heute aus? Ist sie geblieben?
Natürlich. Manchmal ist es meiner Frau zu laut. Dann geht sie lieber einkaufen….aber nein, glücklicherweise ist sie im Laufe der Jahre ebenfalls zu einem wirklichen Jazzfan geworden. Vor einiger Zeit hatten wir zum Beispiel ein unvergessliches Konzert mit Dee Dee Bridgewater in Stuttgart.
Das heißt also, du gehst weiterhin zu Jazzkonzerten.
Ich gehe weiterhin zu Konzerten. Heute ist übrigens das erste Konzert der Halbjahres-Saison im Jazzkeller. Mal sehen, ob ich noch die Kurve kriege.
Wie siehst du die aktuelle Esslinger Jazzszene?
Vieles hängt natürlich von einzelnen Personen ab. Und da muss ich einfach den Hut ziehen vor der Arbeit von Claudia Leutner und Barbara Antonin, die mit ihrer Begeisterung für den Jazz den Keller mit großem Erfolg führen. Dafür haben sie meinen größten Respekt. Das gilt auch für Manfred Müller in der Dieselstraße, der sich allerdings zurückziehen will, wie ich gehört habe. Es ist für viele natürlich auch eine Altersfrage. Glücklicherweise gab es ja nie eine Rivalität zwischen Dieselstraße und Jazzkeller. Man hat immer gut zusammengearbeitet. Ich erinnere mich an ein geplantes Konzert mit Arturo Sandoval. Es war klar, dass der Jazzkeller zu klein sein würde. Und so hat sich die Dieselstraße bereiterklärt, die Veranstaltung im Namen des Jazzkellers in ihren neuen, größeren Räumlichkeiten durchzuführen.
Mit Arturo Sandoval hatten wir, noch zu Zeiten von Günter Graf, ein besonderes Erlebnis. Seine Agentin bat uns, ihn von Villingen abzuholen und auch wieder zurückzubringen, weil er gerne im Mercedes gefahren werden wollte. Ich habe ihn im letzten Jahr noch einmal beim Jazzfestival in Stuttgart erlebt. Unglaublich, der Mann. Er spielt eine Musik, die ich sehr, sehr schätze, mir gefallen einfach diese kubanischen, karibischen Rhythmen. Und Humor hat er auch. Wir hatten damals im Auto großen Spaß, und er hatte dazu auch noch großen Hunger.
Was hättest du abschließend für einen Wunsch, was die Jazzszene in Esslingen angeht?
In erster Linie, dass es so weitergeht. Dass der Jazzkeller jetzt, nach dem Tod von Eugen Hutter, weiter bestehen kann, zuverlässig unterstützt durch großzügige Sponsoren. Und dass die beiden Damen – wie auch der stets im Hintergrund agierende Jazzexperte und Fotograf Wilfried Martin – noch lange weitermachen. Sie schaffen es ja immer wieder, großartige Musiker nach Esslingen zu bringen, denen es so gut gefällt, dass sie gerne wieder kommen und teilweise sogar für eine geringere Gage bereit sind zu spielen. Esslingen hat erfreulicherweise eine gute Reputation in Musikerkreisen! Wenn das so bleibt, mache ich mir keine Sorgen um die Zukunft. Das ist Jazz!
